Leder gehört zu den klassischen Materialien für Fahrzeuginnenräume. Es kommt traditionell als Sitzbezug, auf Lenkrädern, Armauflagen oder Zierverkleidungen zum Einsatz. Bei der Konzeption der rein elektrischen ID. Fahrzeugfamilie traf Volkswagen die Entscheidung, in den Elektromodellen der Marke möglichst tierfreie Materialien zu verwenden. Gleichzeitig optimiert Volkswagen den CO2-Fußabdruck jedes Materials und jeder Komponente, um den kompletten Lebenszyklus der Fahrzeuge nachhaltig zu gestalten. Diese ganzheitliche Betrachtung beginnt beim Rohstoff aller Bauteile und schließt das komplette Fahrzeugleben bis hin zur Wiederverwertbarkeit der Fahrzeugkomponenten ein.
Neue Ideen gefragt Aus Kaffee wird jetzt veganes Leder

Nachhaltige Innovation und ein regionaler Partner: Die Volkswagen Group Innovation arbeitet an der nächsten Generation ökologischer Materialien für Fahrzeuginnenräume. Den Rohstoff für ein neuartiges Kunstleder liefert die Kaffeerösterei Heimbs aus Braunschweig.
Wir betrachten verschiedene Materialien, die es uns erlauben, kurzfristig den Bio-Anteil in Kunstleder zu erhöhen.

Die Grundsatzentscheidung für tierfreie Materialien sowie die steigende Kundennachfrage nach tierfreien Produkten schließt die Verwendung von herkömmlichem Leder in den ID. Fahrzeugen aus. Die bewährte und oft die einzige Alternative zu Leder ist Kunstleder: Es bietet eine lederähnliche Optik und Haptik, lässt sich leicht reinigen, ist strapazierfähig und wird deshalb bereits seit Jahrzehnten in vielen Märkten, etwa den USA und China, stark nachgefragt. Volkswagen hat sich zum Ziel gesetzt, die Umweltbilanz auch tierfreier Innenräume deutlich zu verbessern. Ein Weg führt über die Erhöhung des Anteils biologischer Materialien im Kunstleder, das zu einem großen Teil auf mineralölhaltigen Kunststoffen wie Polyurethan oder PVC basiert.
Kaffeeleder: Regional und nachhaltig
Kunstleder ist ein mehrschichtiges Material, das aus einem textilen Rücken, Füllmaterialien und der eigentlichen Oberflächen-Deckschicht besteht. „Wir betrachten verschiedene Materialien, die es uns erlauben, kurzfristig den Bio-Anteil in Kunstleder zu erhöhen. Dabei liegt es auf der Hand, bei den Füllmaterialien anzusetzen“, erläutert Dr. Martina Gottschling. In der Volkswagen Group Innovation forscht die Wissenschaftlerin an nachhaltigen Materialien. In einem Brainstorming des Teams für Biomaterialien entstand die Idee: Kaffeeleder.


Bei der Röstung von Kaffeebohnen fällt als Reststoff die sogenannte Silberhaut an, die ursprünglich die Kaffeebohne umschließt. Ein regionaler Partner, der den Rohstoff liefern kann, ist schnell gefunden: Die Kaffeerösterei Heimbs in Braunschweig ist spezialisiert auf hochwertige Kaffee- und Espressoprodukte und vertreibt ihren Kaffee vornehmlich an die Gastronomie und an die Hotellerie. Gegründet im Jahr 1880, produziert die Braunschweiger Institution seit 1954 im nördlichen Ringgebiet, rund 40 Kilometer südlich der Wolfsburger Autostadt. Einige Stockwerke unter den Produktionsräumen lagert der hochwertige Rohkaffee, aufgestapelt in braunen Jutesäcken. Die mehrere Meter dicken Mauern des Gewölbes, das Heimbs heute als Rohkaffee-Lager dient, blieben im Krieg unversehrt. Es riecht leicht säuerlich und grasig, denn der typische Kaffeegeruch entsteht erst durch die Röstung.

Als einzige deutsche Rösterei arbeitet Heimbs mit dem patentierten Aerotherm-Röstverfahren. Produktionsleiter Ralf Schwarzenberg erläutert den Prozess: Die Kaffeebohnen ruhen auf einem Luftpolster und rösten bei etwa 260 Grad Celsius in einem indirekt erhitzten Luftstrom. Dabei berühren sie keine heißen Metallteile, was bei anderen Röstverfahren häufig zu Verbrennungen der Kaffeebohne führt und den Geschmack beeinträchtigt.
Heimbs röstet bis heute auf den originalen, in Einzelanfertigung hergestellten Maschinen von 1954. Zuletzt 1988 wurden Kühler nachgerüstet, die eine kontrollierte Beendigung des Röstvorgangs erlauben. Eine echte Manufaktur, die 1986 zu einem Teil der Dallmayr Kaffee OHG wurde. An der Produktionsweise und an der exklusiven Ausrichtung hat sich dabei nichts geändert.
Bei der Röstung löst sich die Silberhaut von der Kaffeebohne und fällt als Restprodukt an, bei Heimbs sind das mehrere Säcke pro Tag. In der Regel werden die trockenen Pergamenthäutchen verbrannt oder kompostiert, ein kleiner Teil wird zu Düngestäbchen weiterverarbeitet.


Aufgrund ihres Restkoffeingehalts eignen sich die Silberhäutchen nicht als Tierfutter. Auch der Versuch, sie bei der Biogas-Gewinnung einzusetzen, war nicht erfolgreich.
Bisherige Tests sind vielversprechend
Als Füllstoff für Kunstleder eignen sich die Kaffee-Silberhäutchen dagegen hervorragend: „Der Stoff fällt bereits trocken an, in einer für die Weiterverarbeitung sehr günstigen Form. Ein feuchtes Material müsste erst energetisch aufwendig getrocknet werden“, sagt Dr. Martina Gottschling. Zudem überzeugt die Forscherin die Nachhaltigkeit des Materials: „Spannend ist, dass es sich dabei um einen Abfallstoff handelt, der bisher keine echte Weiterverwendung hat“.
Gemeinsam mit einem Lieferanten testet Volkswagen nun, ob das Kaffee-Kunstleder mit den Silberhäutchen als Füllstoff den strengen Qualitätskriterien genügt, die Volkswagen an Materialien stellt, die im Fahrzeugbau eingesetzt werden. Schließlich muss der Lederersatz über viele Jahre hohe Belastungen verkraften und ein Fahrzeugleben lang seine optischen und haptischen Eigenschaften behalten. Die ersten Ergebnisse stimmen Martina Gottschling zuversichtlich: „In den bisherigen Tests zeigt sich die Haltbarkeit von Kaffeeleder vergleichbar der von bewährten Kunstlederarten“, sagt die Wissenschaftlerin. Die bisherigen Materialproben des Kunstleders erreichen einen Anteil biologischer Materialien von mehr als 50 Prozent – „ein hervorragender Wert“, sagt Gottschling. Dazu zählt neben dem Füllstoff mit seinem Kaffee-Reststoffanteil auch der textile Rücken, der bereits aus nachwachsenden Rohstoffen besteht.
In den bisherigen Tests zeigt sich die Haltbarkeit von Kaffeeleder vergleichbar der von bewährten Kunstlederarten.
Serien-Einsatz in wenigen Jahren möglich
Die nächsten Meilensteine der Volkswagen Group Innovation beim Projekt Kunstleder mit Kaffee-Silberhäuten bestehen nun darin, nach erfolgten Materialtests der Volkswagen Entwicklung ein Material zur Verfügung zu stellen, das sich für den Einsatz in der Großserie eignet. Dabei geht es beispielsweise um die gewünschte Haptik und Oberflächennarbung und in der Folge um die Serien-Adaption und um Synchronisierung der Lieferwege. „Das Potenzial ist hoch und es kann einer der nächsten Schritte sein, um den ökologischen Fußabdruck unserer ID.-Elektroflotte weiter zu optimieren“, sagt Martina Gottschling. Kann Heimbs als kleine, feine, regionale Kaffeerösterei die Mengen bereitstellen, die Volkswagen als weltweit agierender Automobilhersteller benötigt? „Das ist kein Problem, da der Mengenbedarf für diesen Einsatzzweck nicht hoch ist“, sagt Gottschling. In der Corona-Pandemie hat die auf Hotellerie und Gastronomie spezialisierte Kaffeerösterei nicht ihre volle Produktionskapazität ausgeschöpft. „Mit der Menge Silberhäute, die bei Heimbs anfallen, kommen wir schon sehr weit“. In Prototypen könnte das tierfreie Kunstleder mit seinem hohen Anteil biologischer Materialien schon in zwei Jahren auf Autositzen und Armlehnen spannen.